DIE GANZE WELT IST EINE BÜHNE

Photo (C) Marco Federmann, Ohne Titel. Fair Use



Wer kennt das nicht: Man wacht auf in der früh, demotiviert und genervt, weil man sich einmal mehr dem täglichen Trott stellen muss, den einem das Leben in der modernen Welt auf's Auge gedrückt hat. Die Familie, der Job, Einkaufen... selbst das Abhängen mit den Freunden ist zur langweiligen Routine geworden. Wer auch noch KünstlerIn ist, sieht sich auch noch mit dem Problem konfrontiert Impulse zu vermissen, die einen zu neuen Werken inspirieren könnten.


Am Abend liegt man dann im Bett und kann nicht schlafen, weswegen man sich ein wenig dem Eskapismus widmet: Ein gutes Buch liest, eine neue Serie binged oder eine Dokumentation über historische Ereignisse schaut. Ganz schön blutrünstig wie das damals zuging. Aber irgendwie auch eine interessante Zeit, voller Abenteuer und spannender kultureller Unterschiede... Das wär's doch! Nur wie soll man sich Zugang zu diesen Erlebniswelten verschaffen? Soll man sich freiwillig zur Armee melden? Oder eine Zeitmaschine bauen? Nein, man hat ja keinen Todeswunsch, und realistisch bleiben wäre auch nicht verkehrt. Also: Was tun? 


Nun, es hat auch seine Vorteile im 21. Jahrhundert zu leben! Denn es gibt mannigfache Möglichkeiten in vergleichbare Erlebniswelten und Rollen einzutauchen, ohne seinen Hals zu riskieren. Und man leistet der Allgemeinheit sogar einen wertvollen Dienst damit. Unterhält nicht nur sich und das Publikum, sondern erfüllt zugleich einen Bildungsauftrag. Vermittelt Geschichte, holt vergessenes Kulturwissens ins Gedächtnis zurück, bietet Trost und gibt Mut, inspiriert und erweitert den Horizont.


Was hier geschieht geht weit über schlichte Scharaden, das lustige Verkleiden zu Fasching und das Ausleben irgendwelcher Fantasien oder gar Fetische hinaus. Was hier geschieht bedarf eines Mindestmaß an Commitment, einer Liebe zum Detail, zu Authentizität und einem Charakter den man mit Überzeugung verkörpert. Es ist Darstellende und Immersive Kunst at its best! Also: Welche Optionen stehen uns zur Verfügung? Finden wir es heraus...    




Reenactments


Photo (C) Freddy de Hosdent, "Battle of Waterloo reconstituted 2010-06-20" - Public domain, via Wikimedia Commons.




Reenactments - auch Historische Reenactments - sind meist eine Inszenierung bedeutsamer historischer Ereignisse, wie eine große Schlacht oder eine Belagerung. Diese werden vor einem größeren Publikum zur Schau gestellt, die das Geschehen aus der Distanz betrachten. Einerseits aus Gründen der Sicherheit - immerhin wird hier nicht selten auf Pferden geritten und mit Waffen gekämpft - andererseits, um die Authentizität des Schauspiels zu wahren. 


Diese Form des Wiederauflebenlassens von Geschichte hat eine lange Tradition und findet sich bereits im Alten Rom wieder, wo große Schlachten für das daheimgebliebene Publikum nachgespielt wurden. Wenn auch nicht immer ganz so akkurat und in geschönter Form, um die Massen zu beeindrucken. Eine Praxis die auch in mittelalterlichen Turnieren gerne noch aufgegriffen wurde. Im 17. Jahrhundert befreite das Britische Militär die Reenactments von der Bühne und führten sie schon etwas realistischeren Ausmaßen zu.


Sie erfreuten sich rasch großer, langanhaltender Beliebtheit und erlebten mit der Romantik im 19. Jahrhundert und ihrer schamlosen Verkitschung des Mittelalters, weiteren Aufwind. Während die von fiktiver Literatur und Theaterstücken inspirierten Schlachten vor sich gingen - die in gewisser Weise das LARPen vorweg nahmen - fokussierten sich Vertreter des Militärs und Geschichtsenthusiasten zunehmend auf die historisch akkurate Darbietung. Heutzutage erfreuen sich Reenactments jedweder Epoche noch immer großer Beliebtheit, die in den USA bevorzugte Behandlung des Bürgerkriegs gilt als eines der bekanntesten Beispiele zum Thema. 




Living History


Photo (C) Can Pac Swire, "Trying a musket" - CC BY-NC 2.0 via Wikimedia Commons.




Wer als Publikum einen mehr begehbaren, aus nächster Nähe zu betrachtenden Zugang zur Geschichte wünscht, wird mit dem Prinzip Living History weitaus mehr anfangen können. Hier kann man Ritter und Soldaten nicht nur bei der Zurschaustellung ihrer Rüstungen und Uniformen, sowie beim Exerzieren und Kämpfen bewundern. Man kann auch mit ihnen - bis zu einen gewissen Grad -  interagieren, sich mit ihrer Kultur und den Gegenständen mit denen sie es im täglichen Leben zu tun hatten, auseinandersetzen. Was von den Akteuren schon etwas mehr Talent in Sachen Schauspiel und Improvisation verlangt. Denn man sollte möglichst nicht aus der Rolle fallen und damit die Illusion zerstören. Man findet Living History auf Mittelaltermärkten und Renaissance-Festen, es gibt aber auch eigenständigen Events, wobei der Grad an historischer Authentizität stark vom Veranstalter abhängt.


Living History ist artverwandt mit der Experimentellen Archäologie, in der sich Fachleute aus erster Hand mit den Gegebenheiten einer Epoche auseinander setzen. Etwa indem sie sich mit Werkzeugen aus der Zeit vertraut machen, die heute nicht mehr in Verwendung sind, oder für eine Weile so leben, wie es damals der Fall war. Während sie jeweilige Kleidung tragen und das jeweilige Essen zu sich nehmen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse können später im Rahmen der Living History an ein interessiertes Publikum weitervermittelt werden.


Das Feld ist im Gegensatz zu den anderen Beispielen noch relativ jung und geht auf einen Vorschlag des österreichischen Autors und Okkultisten Guido von List zurück, der in seinem 1900 erschienenen Buch "Der Wiederaufbau von Carnuntum" anregte das alte, nahe Wien gelegene Römerlager als eine Art Freilichtmuseum wiederaufzubauen, in dem nicht nur das Personal sondern auch die Gäste in entsprechender Gewandung gehüllt, die alten Zeiten erleben könnten, als wäre es die ihre.

In den 1930ern etablierte sich
Living History auch in den USA als Bestandteil der Museumspädagogik, wobei schon Ende des 19ten Jahrhunderts mit dem Kult um den Wilden Westen international eine Blaupause für das Konzept geschaffen worden war. Im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Bücher von Karl May. 




Komparserie


Photo (C) Starscream, "Filming of 'Black Thursday' at Podjazd Street, Gdynia. People on this picture are actors, extras, and film crew. 'Black Thursday' is a film about Polish 1970 protests." - CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons.




Wer als Normalsterblicher an einem Reenactment oder Living History teilnehmen möchte, ohne sich gleich direkt mit einem Publikum auseinandersetzen zu müssen, hat - selten aber doch - Gelegenheit sich einer entsprechenden Theater-, Film- oder Fernsehproduktion anzuschließen. Für diese werden laufend KomparsInnen gesucht, die bereit sind sich im Rahmen eines Spielfilms oder einer Dokumentation mit schwerer Rüstung ausstaffiert in eine epische Schlacht zu schmeißen. Oder etwas weniger Dramatisches!


Des Geldes wegen tut man sich das, zumindest in Österreich, sicher nicht an. Und die Chancen "entdeckt" zu werden, sind selbst bei größtmöglichem Talent schwindend gering. Um in alte Zeiten einzutauchen und mal ein wenig Action zu erleben reicht es aber locker! In manchen Fällen muss man aber auch bereit sein gewisse Adjustierungen in Kauf zu nehmen, mit denen man dann auch im täglichen Leben herumlaufen muss. Der Autor dieser Zeilen spielte beispielsweise einmal einen Mönch und sah sich gezwungen, einen Monat lang mit einer Tonsur herumlaufen zu müssen.  


Die Geschichte der Komparserie ist eng mit jener von Theater und Film verknüpft, allerdings unzureichend dokumentiert. Entsprechende Agenturen lassen sich in jeder größeren Stadt finden in der Filme produziert werden. Man sollte allerdings die Finger von jenen Anbietern machen, die Gebühren verlangen - die sind meistens Abzocken und bringen selten Aufträge.




Live Action Role Play (LARP)


Photo (C) Irve, "Stseen larbi Drachenfest 2012 lõpulahingust" - CC BY-SA via Wikimedia Commons.




Außenstehende denken bei LARPern schnell an eine Gruppe von Leuten, die sich gerne wie Ritter verkleiden und kämpfend durch die Wälder streifen. Und obwohl es auch durchaus solche gibt, nicht nur unter Kindern und Junggebliebenen, hält sich die Mehrheit der LARPer an gewisse Regeln die auf Prinzipien des Rollenspiels aufgebaut sind und nicht selten einem Narrativ folgen. Historische Akkuratesse nimmt dabei nicht immer die höchste Priorität ein. Man lässt sich eher von Elementen der Fantasy, Science Fiction oder Alternate History beflügeln. Trotzdem sprich man dem LARP mancherorts durchaus einen Bildungsauftrag zu, so wurde ein deutsches Battlestar Galactica LARP 2015 von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. 

In den 1970er Jahren fanden Pen & Paper-Rollenspiele wie Dungeons & Dragons reißenden Absatz in der jungen Bevölkerung. Das gemeinsame Spiel um ein Narrativ, das meist im Mittelalter angesiedelt war, beflügelte nicht nur die Fantasie, sondern auch den Wunsch diese auszuleben. Ein Umstand der später vor allem in den USA die Sorge um einen Realitätsverlust der Kinder entfachte, was beispielsweise im Film "Labyrinth der Monster" (1982) behandelt wurde, in dem Tom Hanks seine erste große Rolle spielte. Nichtsdestotrotz entwickelte sich rasch eine Community, die ihre Rollenspiele auch hinaus in die Freie Natur tragen wollte und fleißig an ihren Kostümen arbeitete.

Ihnen kam zugute, dass es noch andere Interessengruppen gab, die sich für die Idee begeistern lassen konnten: VertreterInnen des Films und Improtheaters, sowie Geschichtsliebhaber, Strategiespieler, Militärenthusiasten, Faschingsverbände etc. 1977 fand die erste LARP-Veranstaltung Dagorhir Battle Games in Washington D.C. statt. Seit den frühen 1990ern sind die LARPer auch im deutschsprachigen Raum verstärkt umtriebig. Der Siegeszug des Internets hat zu ihrer Popularität nur beigetragen, finden sie doch eine großzügige Nische zwischen Theater, Reenactments, Mittelaltermärkten und Cosplay-Events mit denen sie sich austauschen können. 




Cosplay


Photo (C) Dustie Lohmeyer, "Cosplay at Gencon 2016: Warhammer Universe" - CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons.



Kurz für Costume play. Die möglichst detailgetreue Kostümierung und Darstellung vornehmlich fiktiver Charaktere, die meist auf beliebten Franchises in Film, Fernsehen, Anime, Manga u.a. basieren. Wobei auch durchaus Eigenkreationen akzeptiert werden. Im Vordergrund stehen das Engagement und die Liebe zum Detail, die Mühen die man auf sich genommen hat um möglichst atemberaubend in Erscheinung zu treten und die Kreativität, zum Beispiel bei der Auswahl der Materialien, gewisser Mechaniken oder des Narrativs. 


Cosplayer werden gerne mit LARPern in einen Topf geworfen, doch obwohl es durchaus Überschneidungspunkte gibt unterscheiden sich beide doch signifikant. So sind Cosplayer eher selten in der freien Natur anzutreffen. Das Rollenspiel nimmt auch eher eine untergeordnete Rolle ein, sie bewegen sich individueller in ihrer Interaktion mit anderen Cosplayern. Entgegen LARPern haben sie allerdings nicht den Stellenwert pädagogisch wertvolle Arbeit zu leisten, was nicht immer ganz fair ist, eröffnen sie doch gerade der Jugend ein kreatives Füllhorn der Inspiration. Und auch in Sachen Marketing leisten sie einen wichtigen Beitrag für ihre Lieblingsfranchises, siehe: Earned Media.


Cosplay hat ebenfalls eine weitreichende Geschichte. So wurden auf Maskenbällen im 15. Jahrhundert bereits bekannte Figuren der Folklore dargestellt. Der französische Novellist Jules Verne lud 1877 zu einer Kostümparty ein, in der alle Gäste als Figuren aus seinen Büchern erschienen. Generell boten diese Feste ausreichend Gelegenheit in die Rolle einer fiktiven Figur zu schlüpfen. Als erstes tatsächliches Cosplay wird allerdings der Charakter des Mr. Skygack, from Mars gehandelt, der auf einem Comic von A.D. Condo basiert und 1908 als Kostüm von Mister William Fell aus Cincinnati, Ohio getragen wurde.


Als 1939 die welterste Science Fiction-Convention in Caravan Hall, New York abgehalten wurde, waren es Forrest J. Ackerman und Myrtle R. Douglas die als Erste an einem solchen teilnahmen und dabei selbstgemachte Kostüme trugen. Ein Trend der bis zum heutigen Tag anhält! Wer bereits Fredrik Knudsen's sehenswerte Dokumentation über Furries verfolgt hat, wird sich erinnern, dass auch diese als Cosplayer begannen. (Wer sie noch nicht gesehen hat, kann es hier nachholen!)




Wrestling


Photo (C) Jonathan McIntosh, "Lucha libre máscaras (mexican wrestling masks) found in the Mission District of San Francisco California in the United States." - CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons.




Wrestling ist eine Schaukampf-Sportart, in der neben athletischer Leistung und Wettbewerb auch die Darbietung eine große Rolle einnimmt. Man prügelt nicht einfach sinnbefreit aufeinander ein, sondern kreiert Charaktere die im Konflikt miteinander stehen und erzählt eine packende, dramatische Storyline. Insofern müssen Wrestler nicht nur physisch topfit sein, sondern auch ihr Können in Sachen Rollenspiel beweisen können, gerade dann wenn die Ereignisse einen ungeplanten Verlauf nehmen.


Im Lucha Libre, der mexikanischen Variante des Wrestlings (hierzu auch unser Podcast mit Raffael Nagel) spielt die Maskierung eine größere Rolle. Die Luchadoras und Luchadores nehmen hier einen ähnlichen Stellenwert ein wie Superhelden (dazu gleich mehr!) In den meisten Fällen dominiert das Show-Element und man achtet sorgfältig darauf den anderen nicht zu verletzen. Es gibt aber auch Varianten wie das japanische Puroresu oder das Shoot Wrestling, das um Elemente der Mixed Martial Art erweitert wurde, wo man weniger zimperlich miteinander umgeht.


Das Wrestling geht auf das Ringen zurück, das bereits in der Antike äußerst beliebt und auch Bestandteil der originalen Olympischen Spiele war. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus, insbesondere in Großbritannien, das Catch Wrestling, das einen mehr realistischeren Kampfstil einnahm, sowie Techniken und Griffe in den Vordergrund rückte. Dem 20. Jahrhundert entgegen fand das Wrestling seinen Weg in den Circus und ins Vaudeville, wo der Showcharakter schon eine etwas größere Rolle spielte.

In den 1920ern entwickelte sich in Amerika schließlich das moderne Pro-Wrestling, welches über das gesamte 20. Jahrhundert mit diversen Dachorganisationen wie der NWA (National Wrestling Alliance, 1948), der WWE (World Wrestling Entertainment, ehemals World Wrestling Federation, 1953) zu internationalem Ruhm gelangte. Darüber hinaus gibt es international einige Amateur-Wrestling-Verbände, denen man sich anschließen kann.

 



Real Life Superhelden (RLSH)


Photo (C) Italo Rondinella - "Superbarrio Gómez" - Source: https://www.italorondinella.com/2019/02/07/superbarrio-gomez/




Nein, hier ist uns kein Fehler unterlaufen! Es gibt tatsächlich Leute die als Superhelden aktiv sind, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie wir es aus Comics und Filmen kennen. Vielmehr sind sie einer Art Nachbarschaftswache zu vergleichen, die für Sicherheit auf den Straßen sorgt und Menschen in Notlagen hilft. Ihre Verkleidung dient eher der Show, um sich selbst und andere zu motivieren und stärker auf Probleme aufmerksamer zu machen. In manchen Fällen dient die Maskerade aber tatsächlich auch der Wahrung der Identität, wenn es beispielsweise um den Kampf gegen einen "Bösewicht" geht, der den Helden und ihren Familien gefährlich werden könnte.

Einer der frühesten Beispiele war der brasilianische Satiriker und Aktivist Superbarrio Gómez, der 1987 aufbrach, um sich für leistbares Wohnen stark zu machen. Nach einem Erdbeben 1985 in Mexico City waren zahlreiche Menschen obdachlos geworden, auf deren Not Superbarrio Gómez mit seinen Auftritten aufmerksam machen wollte. Zu seinem Kostüm inspiriert wurde er durch den Lucha Libre-Wrestler El Santo, der sich in Comics und Filmen für dieselben Dinge einsetzte.


Superbarrio Gómez war bis zu seinem Tod 2013 noch aktiv und inspirierte Menschen auf der ganzen Welt es ihm gleich zu tun. Zu ihnen gehörten unter anderem Menganno aus Argentinien; Black Rat aus Australien; Redbud Woman aus China; Dex Laserskater aus Finnland; Park Wayne aus Israel; Entomo aus Italien oder Bromley Batman aus England. Natürlich gibt es auch in Amerika einige Vertreter, darunter Phoenix Jones aus Seattle, der die Szene allerdings mit seinen eigenen Vergehen in Verruf brachte. (Hierzu mehr in der folgenden Dokumentation von Atrocity Guide:) Darüber hinaus scheinen die RLSHs einen positiven Einfluss auf ihre Communities zu haben und eine Vorbildfunktion für die Jugend einzunehmen.




#FEEDBACK

von Manuel Waldner 6. September 2025
HOSE RUNTER: DER PODCAST VOR SHOW DE TOILETTE
von Peter.W. 5. September 2025
Das Mark des Lebens aussaugen
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EinBlick in die Seele der Gesellschaft: Sebastian Bohrn Mena im Kollektivpodcast In der intimen Atmosphäre des Kollektivpodcasts, einem Raum für tiefgründige Gespräche, die, wie der Name schon andeutet, für die gesamte Menschheit von Belang sein sollen, entfaltete sich ein Dialog von seltener Offenheit und Dringlichkeit. Zu Gast bei Musiker und Host David Pross war der Autor und bekannte TV-Analyst Sebastian Bohrn Mena. Was als Aufwärmrunde über seine ungewöhnliche Kindheit begann, entwickelte sich schnell zu einer messerscharfen Analyse der Zerreißproben, denen unsere moderne Welt ausgesetzt ist. Es war ein Gespräch, das von persönlichen Prägungen zu den größten Problemen der Menschheit führte und dabei die feinen Linien zwischen Psychologie, Politik und dem puren Menschsein nachzeichnete. Am Frühstückstisch der Therapeuten: Eine Kindheit unter dem Zeichen der Reflexion Wie prägt es einen Menschen, wenn beide Eltern Psychotherapeuten sind?. Diese Frage, von Host David Pross fast beiläufig gestellt, öffnete die Tür zu Bohrn Menas innerer Welt. Er erzählte von einer Kindheit, in der das Sprechen über Träume am Frühstückstisch zum Alltag gehörte. "Meine Mutter ist Psychoanalytikerin [...], mein Vater ist Gesprächstherapeut", schilderte er. Diese Konstellation sei als Kind grandios gewesen. Es war ein frühes Training in Selbstreflexion, das ihn lehrte, seine Emotionen zu ergründen und zu verstehen, was Erlebnisse mit ihm machen. Diese Erziehung, so wurde im Gespräch deutlich, ist der Nährboden für jene differenzierte Herangehensweise, die viele an seinen öffentlichen Auftritten schätzen – die Fähigkeit, auch in hitzigen Debatten nicht nur in Schwarz oder Weiß zu denken. "Dieses differenzierte Betrachten von Sachverhalten, von Personen, aber auch von sich selbst, ist eigentlich die Grundbasis dessen, was ich gelernt habe" , resümierte Bohrn Mena, der selbst einen Doktor der Psychotherapiewissenschaften besitzt. Dieses Rüstzeug erweist sich als unschätzbar, wenn er in Fernsehduellen auf politische Gegner trifft, wo es manchmal "sehr emotional, manchmal auch sehr persönlich wird". Besonders bei Themen wie Migration und Rassismus, die durch die Fluchtgeschichte seiner chilenischen Mutter tief in seiner eigenen Biografie verwurzelt sind, wird die professionelle Distanz zur Herausforderung. "Das triggert was in mir. Das muss ich ganz offen sagen". Er gestand, sich manchmal über sich selbst zu ärgern, wenn er emotional werde, wo er es nicht wollte. Doch er plädierte eindringlich dafür, sich die Menschlichkeit zu bewahren: "Trotzdem glaube ich, ist es wichtig, dass wir Menschen bleiben und das bedeutet, dass wir ehrlich reagieren auf etwas". Der bedrohte Grundkonsens: Ein Plädoyer für die Rettung der Demokratie Vom Persönlichen schlug die Unterhaltung den Bogen zu den großen gesellschaftlichen Verwerfungen. Als größtes Problem unserer Zeit identifizierte Bohrn Mena das systematische Erodieren der Demokratie. Über Jahrzehnte, so seine Analyse, sei den Menschen ein Denken in Konkurrenz und Ellenbogenmentalität eingetrichtert worden , das uns zu Gegnern statt zu Verbündeten mache. Dies höhle den Grundkonsens unserer Gesellschaft aus: die Solidarität und das Prinzip des Miteinanders. "Ich glaube tatsächlich, dass unsere Demokratie angezählt ist" , warnte er mit ernstem Unterton und verwies auf die wachsende Zahl von Menschen, die sich einen "starken Führer" wünschen. Host David Pross warf an dieser Stelle ein, dass es nicht nur ein emotionales, sondern auch ein massives intellektuelles Problem gäbe: eine mangelnde politische Grundbildung. Viele Bürger wüssten nicht einmal, was sie wählten, weil ihnen grundlegende Prinzipien wie die Gewaltentrennung fremd seien. Sein radikaler Vorschlag eines "Wahlführerscheins" stieß bei Bohrn Mena auf offene Ohren für eine Reform, auch wenn er den Hebel woanders ansetzen würde: bei der politischen Bildung, die bereits im Kindergarten beginnen müsse , und bei der Frage, warum man nicht stellvertretend für seine Kinder wählen dürfe, um deren Zukunft mehr Gewicht zu verleihen. Wut als Motor und die Falle des Populismus Einig waren sich beide, dass die Unzufriedenheit vieler Menschen, die "in der Früh hackeln geht und am Abend heimkommt", der Treibstoff für populistische Bewegungen ist. Die FPÖ, so Bohrn Mena, habe es perfektioniert, "der einzige Kanal für Wut in diesem Land" zu sein. Er warnte davor, diese Wut zu negieren, denn sie sei eine "unglaublich mächtige und wertvolle Emotion". Statt die Menschen zu beschwichtigen, müsse man anerkennen: "Du hast recht mit deiner Wut". Die Kunst bestehe darin, diese mobilisierende Kraft für ein gemeinschaftliches Ziel zu kanalisieren, anstatt sie einem "vermeintlich starken Mann" zu überlassen – ein Weg, der historisch betrachtet nicht gut ausgegangen sei. Zukunftsszenarien zwischen KI, Klimakrise und Krieg Das Gespräch navigierte weiter durch die großen Krisenherde der Zukunft. Die künstliche Intelligenz, die, wie Pross aus seiner Perspektive als Musiker schilderte, ganze Berufsfelder zu revolutionieren und zu vernichten droht , sei laut Bohrn Mena nur zu bewältigen, wenn die Politik dafür sorgt, dass die gigantischen Gewinne der Tech-Konzerne der Gemeinschaft zugutekommen. Es sei ein Verteilungsproblem , das sich auch in der Geringschätzung von unbezahlter Sorgearbeit, die meist von Frauen geleistet wird, zeige. Als weiteres existenzielles Megathema benannte er den Wert der Natur. Unser Wirtschaftssystem, das einem Baum erst dann einen Wert zubilligt, wenn man ihn umhackt, führe geradewegs in die Katastrophe. Wir müssten verstehen, "dass wir ein Bestandteil der Natur sind" und ihr wieder Raum geben. Den düsteren Abschluss bildete das Thema Krieg, das alle anderen Krisen wie unter einem Brennglas bündelt. Hier zeigte sich auch der einzige klare Dissens zwischen den Gesprächspartnern. Während Bohrn Mena leidenschaftlich argumentierte, dass es aus pazifistischer Sicht feige sei, einem überfallenen Volk wie der Ukraine die Waffen zur Selbstverteidigung zu verweigern , äußerte Pross sein tiefes Unverständnis darüber, wie Waffenlieferungen je eine Lösung für Krieg sein könnten. Es war ein Moment, der die ganze Komplexität und die moralischen Zwickmühlen unserer Zeit offenbarte. Das Gespräch im Kollektivpodcast war mehr als nur ein Interview. Es war eine gemeinsame, schonungslose Bestandsaufnahme, die den Zuhörer nachdenklich und mit dem Gefühl zurücklässt, dass die Rettung der Demokratie und die Bewältigung der globalen Krisen bei jedem Einzelnen und im gemeinschaftlichen Handeln beginnen. Eine Einladung, nicht wegzusehen, sondern sich einzumischen – und sich vielleicht die ganze, faszinierende Tiefe dieses Dialogs im Podcast selbst anzuhören.