HABE DIE EHRE! (ESSAY)

Source: "Tousei buyuuden: Takasaki Saichirou" von Kunikazu Utagawa (歌川 国員, ca. 1830-1910)


Es gibt Begriffe, von denen wir glauben zu wissen, was sie bedeuten. Um sie zu erklären, fehlen uns dann allerdings die richtigen Worte. Ein solcher Begriff ist die Ehre. Ist sie ein Gefühl? Eine Moralvorstellung? Ein anderes Wort für Reputation? Für Stolz oder Würde? Wo kommt sie her? Aus uns oder von außen? Ist sie wirklich etwas Gutes oder brauchen wir sie eigentlich garnicht? 


Wer ohne Ehre ist, scheint es, hat keinen Wert, ist nicht vertrauenswürdig. Die Ehre gibt uns Kraft und Halt. Doch ist sie selbst allzu verletzbar und muss verteidigt werden. Man kann durch seine Taten zu Ehren gelangen, sie lassen sich aber auch übertragen, teilen, mit Menschen die im engen Bunde mit einem stehen. Die unter einem gemeinsamen Namen vereinigt sind. In deren Adern dasselbe Blut fließt. Einer Familie! Niemand steht für sich allein, das Handeln des Einzelnen hat Auswirkungen auf das Ansehen der gesamte Sippschaft. Hier werden Ideale geteilt und wenn nötig unter gemeinsamer Anstrengung bis auf's Letzte verteidigt. "Gemeinsam sind wir stark!"


Da Familien in der Regel aber nicht aus gleichgeschalteten Robotern bestehen, sondern aus Individuen mit eigenen Gedanken, Wünschen und Zielen, wackelt dieses Ideal mitunter schon mal. Und das darf es auch! Ein Ideal das einer kritischen Auseinandersetzung nicht standhält sollte unter Umständen neu evaluiert werden. Was für manche Familien schon einen unangenehmen Kraftakt darstellt. Weshalb sie sich leider häufig der wesentlich einfacheren Alternative bedienen, nämlich der Absonderung des störenden Individuums, des "schwarzen Schafs", dem damit jede Ehre aberkannt wird. In früheren Zeiten konnte so etwas existenzbedrohende Ausmaße annehmen, weshalb man eher Abstand davon nahm aufzumucken.


Manchen Familien reicht es nicht die Schwarzen Schafe zu vertreiben. Um ihre Ehre zu retten tun sie auch noch, als hätte es das entsprechende Familienmitglied nie gegeben, beseitigen weitestgehend jede Spur ihrer Existenz und erklären es zu einem absoluten Tabu auch nur ihren Namen auszusprechen. Sie bedienen sich damit unwissentlich einer der grausamsten Strafen neben Tod und Folter, die es bereits in Zeiten des Antiken Roms gab: Einer Damnatio memoriae, Verdammung des Andenkens. Diese beinhaltet die Verfluchung und Tilgung des Andenkens einer Person aus allen verfügbaren Aufzeichnungen. Noch heute lassen sich Beispiele einer solchen Damnatio memoriae finden: So ließ der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un zuletzt im Jahr 2013 alle Spuren von der Existenz seines entmachteten Onkels Jang Song-thaek aus den Medien streichen. Bekannt ist auch ein Foto von Josef Stalin, aus dem der in Ungnade gefallene Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD Nikolai Jeschow herausretuschiert wurde. Siehe hier...







Umgekehrt sind manche auch bereit selbst große Opfer zu erbringen, um die Ehre ihrer Familie zu bewahren. Aus der japanischen Kultur ist beispielsweise der rituelle Selbstmord "Seppuku" überliefert, der westlichen Welt durch Verunglimpfung christlicher Missionare auch als "Harakiri" bekannt. Hierbei handelt es sich nicht um Selbstmord aus Feigheit heraus, sondern um einen grausamen Blutakt, bei dem sich das Oberhaupt einer in Ungnade gefallenen Familie eine Klinge in den Bauch rammt und, damit nicht genug, bestimmte weitere Schnitte zufügen muss. Seppuku war vor allem in Schichten der Samurai Mitte des 12. Jahrhunderts verbreitet. Verboten wurde die blutrünstige Methode im Jahr 1868, es gab dennoch weitere Fälle bekannter japanischer Persönlichkeiten wie den Heeresminister Anami Korechika, der glaubte mit der Kapitulation Japans nach Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Kaiser Hirohito enttäuscht zu haben.




Herkunft des Begriffs



Laut deutschem Wiktionary bezeichnet Ehre zum einen die Innere Würde eines Menschen, die er sich selbst gegenüber empfindet, zum Anderen die Bezeugung der Hochachtung, die ein Mensch durch Andere erfährt. Das Wort wurde in veralteter Form aber auch für die sexuelle Enthaltsamkeit verwendet. Es kommt aus dem Mittelhochdeutschen "ēre" (Ruhm) vom althochdeutschen "ēra" (Ehrfurcht, Verehrung). Aristoteles entwickelte in der Nikomachischen Ethik den Ehrbegriff als "Streben nach Vortrefflichkeit", dem "Ehrgeiz" bestmögliche Arbeit zu leisten und seinem Leben damit einen Sinn zu geben.


Seit der Antike verstand man unter Ehre auch eine Gabe. Die gottgegebene Gnade mehr wert zu sein als der kleine Mann. Gleichzeitig konnte man als solcher Ehre erwerben indem man sich in den Dienst der Obrigkeit stellte, ihr ewige Treue schwor, in ihrem Namen in den Krieg zog und gegebenenfalls starb. Als Individuum war man zwar nicht mal eine Fußnote in den Annalen der Geschichte, aber immerhin Teil eines Großen Ganzen, welches das eigene, kümmerliche Leben überdauerte, woraus sich zumindest etwas Stolz ziehen ließ. Und immer noch sinnvoller als zu verhungern oder ein ödes Dasein als Bauer zu fristen, war es allemal!


Über die Jahrhunderte hinweg wurde die Ehre zusehends romantisiert, mit Tugenden wie Tapferkeit und Edelmut, sowie gewissen moralischen Wertvorstellungen verbunden. Erst mit Thomas Hobbes und einigen anderen Philosophen, wurde sie als Machtinstrument zur Diskussion gestellt. So schrieb Schopenhauer: "Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung."


Heutzutage hat die Ehre, zumindest in den westlichen Zivilisationen, zunehmend an Bedeutung verloren. Oder man versteht je nach Kontext etwas völlig anderes darunter. Spricht jemand heute von "Ehrbeleidigung" wird damit im besten Fall die Reputation oder Würde, im schlechtesten Fall der Stolz einer Person oder Gruppe gemeint. Karl Kraus sagte dazu: "Die Ehre ist der Wurmfortsatz im seelischen Organismus. Ihre Funktion ist unbekannt, aber sie kann Entzündungen bewirken. Man soll sie getrost den Leuten abschneiden, die dazu inklinieren, sich beleidigt zu fühlen". Gerade in Kreisen der Politik wird sie häufiger als rhetorische Waffe eingesetzt, beispielsweise zur Täter-Opfer-Umkehr, auch Victim shaming genannt. Was leider sehr gut zu funktionieren scheint, weshalb man nicht umhin kommt sich zu fragen, ob es in der Politik überhaupt noch so etwas wie eine Ehre gibt, die sich verletzen ließe. Was uns zu einem weiteren Synonym führt: Scham!





Source: Mary Evans Picture Library / Global Look Press



What is it good for?



Unterm Strich kann man behaupten, dass Ehre synonym für viele recht gegensätzliche Begriffe steht und nicht immer klar ersichtlich ist, ob alle dasselbe darunter verstehen. Man könnte sogar argumentieren, dass es das Wort nicht braucht, da man stattdessen auch schlicht Reputation, Stolz, Idealismus, Anstand, Würde, Integrität, Respekt, Prestige, Scham etc. verwenden könnte. Umgekehrt ist es aber gerade die "Ehre" die eine Verbindung zwischen all diesen Worten herstellt und für unseren Umgang mit dem Leben selbst steht. 


Man sollte sich halt nicht der Illusion hingeben, dass es eine einzige universelle Deutung für das Wort gibt, die nicht von subjektiven Sichtweisen jedes Einzelnen geprägt ist. Hegel schrieb dahingehend in seinen Vorlesungen über die Ästhetik:


„Die Ehre kann nun den mannigfaltigsten Inhalt haben. Denn alles, was ich bin, was ich tue, was mir von anderen angetan wird, gehört auch meiner Ehre an. Ich kann mir deshalb (...) Treue gegen Fürsten, gegen Vaterland, Beruf, Erfüllung der Vaterpflichten, Treue in der Ehe, Rechtschaffenheit in Handel und Wandel, Gewissenhaftigkeit in wissenschaftlichen Forschungen und so fort zur Ehre anrechnen. Für den Gesichtspunkt der Ehre nun aber sind alle diese in sich selbst gültigen und wahrhaftigen Verhältnisse nicht durch sich selbst sanktioniert und anerkannt, sondern erst dadurch, dass ich meine Subjektivität hineinlege und sie hierdurch zur Ehrensache werden lasse. Der Mann von Ehre denkt daher bei allen Dingen zuerst an sich selbst; und nicht, ob etwas an und für sich recht sei oder nicht, ist die Frage, sondern, ob es ihm gemäß sei, ob es seiner Ehre gezieme, sich damit zu befassen, oder davonzubleiben. Und so kann er wohl auch die schlechtesten Dinge tun und ein Mann von Ehre sein. (...)“ 


(Source: Wikipedia)




#FEEDBACK

von Manuel Waldner 6. September 2025
HOSE RUNTER: DER PODCAST VOR SHOW DE TOILETTE
von Peter.W. 5. September 2025
Das Mark des Lebens aussaugen
von Manuel Waldner 5. September 2025
DR. MICHAEL HOCH & DI DR. NORBERT FRISCHAUF
von Manuel Waldner 23. August 2025
EinBlick in die Seele der Gesellschaft: Sebastian Bohrn Mena im Kollektivpodcast In der intimen Atmosphäre des Kollektivpodcasts, einem Raum für tiefgründige Gespräche, die, wie der Name schon andeutet, für die gesamte Menschheit von Belang sein sollen, entfaltete sich ein Dialog von seltener Offenheit und Dringlichkeit. Zu Gast bei Musiker und Host David Pross war der Autor und bekannte TV-Analyst Sebastian Bohrn Mena. Was als Aufwärmrunde über seine ungewöhnliche Kindheit begann, entwickelte sich schnell zu einer messerscharfen Analyse der Zerreißproben, denen unsere moderne Welt ausgesetzt ist. Es war ein Gespräch, das von persönlichen Prägungen zu den größten Problemen der Menschheit führte und dabei die feinen Linien zwischen Psychologie, Politik und dem puren Menschsein nachzeichnete. Am Frühstückstisch der Therapeuten: Eine Kindheit unter dem Zeichen der Reflexion Wie prägt es einen Menschen, wenn beide Eltern Psychotherapeuten sind?. Diese Frage, von Host David Pross fast beiläufig gestellt, öffnete die Tür zu Bohrn Menas innerer Welt. Er erzählte von einer Kindheit, in der das Sprechen über Träume am Frühstückstisch zum Alltag gehörte. "Meine Mutter ist Psychoanalytikerin [...], mein Vater ist Gesprächstherapeut", schilderte er. Diese Konstellation sei als Kind grandios gewesen. Es war ein frühes Training in Selbstreflexion, das ihn lehrte, seine Emotionen zu ergründen und zu verstehen, was Erlebnisse mit ihm machen. Diese Erziehung, so wurde im Gespräch deutlich, ist der Nährboden für jene differenzierte Herangehensweise, die viele an seinen öffentlichen Auftritten schätzen – die Fähigkeit, auch in hitzigen Debatten nicht nur in Schwarz oder Weiß zu denken. "Dieses differenzierte Betrachten von Sachverhalten, von Personen, aber auch von sich selbst, ist eigentlich die Grundbasis dessen, was ich gelernt habe" , resümierte Bohrn Mena, der selbst einen Doktor der Psychotherapiewissenschaften besitzt. Dieses Rüstzeug erweist sich als unschätzbar, wenn er in Fernsehduellen auf politische Gegner trifft, wo es manchmal "sehr emotional, manchmal auch sehr persönlich wird". Besonders bei Themen wie Migration und Rassismus, die durch die Fluchtgeschichte seiner chilenischen Mutter tief in seiner eigenen Biografie verwurzelt sind, wird die professionelle Distanz zur Herausforderung. "Das triggert was in mir. Das muss ich ganz offen sagen". Er gestand, sich manchmal über sich selbst zu ärgern, wenn er emotional werde, wo er es nicht wollte. Doch er plädierte eindringlich dafür, sich die Menschlichkeit zu bewahren: "Trotzdem glaube ich, ist es wichtig, dass wir Menschen bleiben und das bedeutet, dass wir ehrlich reagieren auf etwas". Der bedrohte Grundkonsens: Ein Plädoyer für die Rettung der Demokratie Vom Persönlichen schlug die Unterhaltung den Bogen zu den großen gesellschaftlichen Verwerfungen. Als größtes Problem unserer Zeit identifizierte Bohrn Mena das systematische Erodieren der Demokratie. Über Jahrzehnte, so seine Analyse, sei den Menschen ein Denken in Konkurrenz und Ellenbogenmentalität eingetrichtert worden , das uns zu Gegnern statt zu Verbündeten mache. Dies höhle den Grundkonsens unserer Gesellschaft aus: die Solidarität und das Prinzip des Miteinanders. "Ich glaube tatsächlich, dass unsere Demokratie angezählt ist" , warnte er mit ernstem Unterton und verwies auf die wachsende Zahl von Menschen, die sich einen "starken Führer" wünschen. Host David Pross warf an dieser Stelle ein, dass es nicht nur ein emotionales, sondern auch ein massives intellektuelles Problem gäbe: eine mangelnde politische Grundbildung. Viele Bürger wüssten nicht einmal, was sie wählten, weil ihnen grundlegende Prinzipien wie die Gewaltentrennung fremd seien. Sein radikaler Vorschlag eines "Wahlführerscheins" stieß bei Bohrn Mena auf offene Ohren für eine Reform, auch wenn er den Hebel woanders ansetzen würde: bei der politischen Bildung, die bereits im Kindergarten beginnen müsse , und bei der Frage, warum man nicht stellvertretend für seine Kinder wählen dürfe, um deren Zukunft mehr Gewicht zu verleihen. Wut als Motor und die Falle des Populismus Einig waren sich beide, dass die Unzufriedenheit vieler Menschen, die "in der Früh hackeln geht und am Abend heimkommt", der Treibstoff für populistische Bewegungen ist. Die FPÖ, so Bohrn Mena, habe es perfektioniert, "der einzige Kanal für Wut in diesem Land" zu sein. Er warnte davor, diese Wut zu negieren, denn sie sei eine "unglaublich mächtige und wertvolle Emotion". Statt die Menschen zu beschwichtigen, müsse man anerkennen: "Du hast recht mit deiner Wut". Die Kunst bestehe darin, diese mobilisierende Kraft für ein gemeinschaftliches Ziel zu kanalisieren, anstatt sie einem "vermeintlich starken Mann" zu überlassen – ein Weg, der historisch betrachtet nicht gut ausgegangen sei. Zukunftsszenarien zwischen KI, Klimakrise und Krieg Das Gespräch navigierte weiter durch die großen Krisenherde der Zukunft. Die künstliche Intelligenz, die, wie Pross aus seiner Perspektive als Musiker schilderte, ganze Berufsfelder zu revolutionieren und zu vernichten droht , sei laut Bohrn Mena nur zu bewältigen, wenn die Politik dafür sorgt, dass die gigantischen Gewinne der Tech-Konzerne der Gemeinschaft zugutekommen. Es sei ein Verteilungsproblem , das sich auch in der Geringschätzung von unbezahlter Sorgearbeit, die meist von Frauen geleistet wird, zeige. Als weiteres existenzielles Megathema benannte er den Wert der Natur. Unser Wirtschaftssystem, das einem Baum erst dann einen Wert zubilligt, wenn man ihn umhackt, führe geradewegs in die Katastrophe. Wir müssten verstehen, "dass wir ein Bestandteil der Natur sind" und ihr wieder Raum geben. Den düsteren Abschluss bildete das Thema Krieg, das alle anderen Krisen wie unter einem Brennglas bündelt. Hier zeigte sich auch der einzige klare Dissens zwischen den Gesprächspartnern. Während Bohrn Mena leidenschaftlich argumentierte, dass es aus pazifistischer Sicht feige sei, einem überfallenen Volk wie der Ukraine die Waffen zur Selbstverteidigung zu verweigern , äußerte Pross sein tiefes Unverständnis darüber, wie Waffenlieferungen je eine Lösung für Krieg sein könnten. Es war ein Moment, der die ganze Komplexität und die moralischen Zwickmühlen unserer Zeit offenbarte. Das Gespräch im Kollektivpodcast war mehr als nur ein Interview. Es war eine gemeinsame, schonungslose Bestandsaufnahme, die den Zuhörer nachdenklich und mit dem Gefühl zurücklässt, dass die Rettung der Demokratie und die Bewältigung der globalen Krisen bei jedem Einzelnen und im gemeinschaftlichen Handeln beginnen. Eine Einladung, nicht wegzusehen, sondern sich einzumischen – und sich vielleicht die ganze, faszinierende Tiefe dieses Dialogs im Podcast selbst anzuhören.